Freitag, Juni 13, 2008

Frühförderung - eine Illusion

Ein typischer Topos in der Literatur zur Frühförderung ist etwa der vom Hans, der nimmermehr lernt, was Hänschen nicht gelernt habe. Das Hänschen-Argument dürfte vor allem deshalb so wirksam sein, weil es bei Eltern Ängste mobilisiert und gleichzeitig so plausibel erscheint; Volkes Mund tut bekanntlich Wahrheit kund und mit dem Bezug auf Hirnforschung wird diese noch gewichtiger.
Mit Verweis auf „sensible Phasen“, „Entwicklungsfenster“ und „synaptische Plastizität“ wird eine intensive frühe Förderung angemahnt, denn die wichtigsten Schritte in der Hirnentwicklung vollzögen sich innerhalb der ersten drei Lebensjahre und was in diesem Zeitraum versäumt werde, könne auch nicht nachgeholt werden. Die empfohlenen Maßnahmen reichen von der Darbietung bestimmter Spielzeuge und Musikstücke bis hin zu Englischkursen für Babys, damit sie die Sprache später akzentfrei beherrschen.
Als neurowissenschaftliche Referenz dienen den Autoren insbesondere Deprivationsexperimente. In solchen Experimenten werden den Versuchstieren bestimmte Erfahrungen vorenthalten oder aber die Umwelt wird entsprechend reizarm ausgestattet. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass eine frühe Deprivation oder eine reizarme Umwelt negative Auswirkungen auf die Hirnentwicklung der Tiere haben. Allerdings ist die Übertragung dieser Ergebnisse auf Menschen heikel: Man kann in solchen Experimenten nur vergleichsweise einfache Entwicklungsprozesse untersuchen und daraus zwar Aussagen über entwicklungshemmende Faktoren gewinnen, keineswegs kann man jedoch im Umkehrschluss daraus ableiten, welche Faktoren sich nun besonders positiv auswirken.
Quelle: Nicole Becker: "Reißt die Zeitfenster zum Lernen auf!" in der F.A.Z.-Serie Gehirntraining

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